In der Theorie ist Ab- und Zunehmen einfach. Wenn der Verbrauch die Aufnahme überschreitet, liegt eine negative Energiebilanz vor, so dass die Energiereserven des Körpers vermindert werden. Umgekehrt vergrößern sich bei einer positiven Kalorienbilanz unsere Energiespeicher wieder. Die Energiebilanz gilt ohne Ausnahme. Unter kontrollierten wissenschaftlichen Bedingungen lässt sich eindeutig nachweisen, dass die Energiebilanz das Körpergewicht bestimmt. Aber diese Sichtweise ist unvollständig, weil sie uns und die Umwelt ausblendet.
Evolutionäres „Mismatch“
Menschen wissen, dass zu viel Nahrungsenergie gepaart mit körperlicher Inaktivität Fettpolster entstehen lässt, die chronische Entzündungen und Zivilisationskrankheiten fördern. Die eigentliche Frage lautet also: Warum fällt es weltweit immer mehr Menschen trotz dieses Wissens so schwer, dieses für sie schädliche Verhalten zu vermeiden? Evolutionäres „Mismatch“ ist die kurze Antwort: Von einem Wimpernschlag der Evolution abgesehen, war für Menschen genügend Nahrung stets der Flaschenhals, der über Leben und Tod sowie die Anzahl der Nachkommen entschieden hat. Deshalb bevorzugen wir hochkalorische Lebensmittel und meiden unnötige Anstrengungen.
Anpassung des Körpers
Die Regulation der Energiereserven ist deshalb für alle Lebewesen essenziell und funktionierte bis vor kurzem gut genug ohne unser bewusstes Zutun. Unser bewusster Wille hatte niemals die Aufgabe, unsere Energieaufnahme und das Körpergewicht zu regulieren.
Unser Bewusstsein erzeugt in uns die Illusion, dass da ein autonomes Selbst die Regie über die Aufnahme und den Verbrauch an Energie hätte. In Wirklichkeit ist aber unser willentlicher Handlungsraum deutlich kleiner, wie das Scheitern fast aller Diäten zeigt.
Das Gehirn steuert weitgehend autonom die unzähligen Aufgaben des Stoffwechsels, um z. B. den Füllungszustand der Energiespeicher und die Versorgung der Gewebe mit Energie zu messen und dem Bewusstsein mittels Hunger- und Sättigungsimpulsen zum richtigen Handeln anzuregen.
Deshalb hilft die rationale Erfassung der Energiebilanz auch nicht beim Abnehmen, weil unser Essverhalten notwendigerweise durch unbewusste Gewohnheiten geprägt ist und die Kapazität unseres Willens und Aufmerksamkeit limitiert ist.
Die Fähigkeit des Körpers in gewissem Grad den Energiebedarf an die Nahrungsaufnahme anzupassen, hilft zu verstehen, warum besonders bei gravierendem Nahrungsmangel die zuvor errechnete Gewichtsabnahme deutlich kleiner als erwartet ausfällt. Denn statt wie erhofft die Fettspeicher abzuschmelzen, verringert sich zusätzlich die Zuteilung der Energie für die anderen Aufgaben, so dass Antrieb, Körpertemperatur, Fruchtbarkeit, Regeneration und Wachstum reduziert werden.
Wichtig
Da auch der Energieverbrauch für eine ausgemessene Energieversorgung angepasst wird, transportiert die bisherige Vorstellung eines Grund- und Leistungsumsatzes ein unzutreffendes Bild des Stoffwechsels. Diese Sichtweise ist darauf zurückzuführen, dass es unter Alltagsbedingungen lange nicht möglich war den Gesamtenergieverbrauch zu ermitteln. Die wachsende Zahl von neuen Messungen zeigt eindrücklich, dass der Grundumsatz keine unveränderliche Größe darstellt, sondern die verschiedenen Energieaufwendungen sich gegenseitig beeinflussen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Energieaufnahme deutlich unter- oder oberhalb des Bedarfs liegt oder ein hoher Energiestress durch vermehrte physische Aktivität entsteht. Wenn deutlich mehr Energie als gewöhnlich für körperliche Aktivität aufgebraucht wird, drosselt dies den Zufluss in die anderen Bereiche. Das erklärt auch das Phänomen Übertraining bei Leistungssportlern.
Merke
Oberste Priorität hat stets das Überleben und damit die Sicherung unserer Energiereserven. Genau deshalb ist nachhaltiges Abnehmen von Körperfett und Muskelaufbau auch so schwierig, weil dies an bestimmte Bedingungen gekoppelt ist. In der nächsten Folge werdet ihr darüber mehr erfahren.